Joannis Avramidis
Günter Braunsberg: Joannis Avramidis. Fünffigurengruppe, 1964
in: AUS DER SAMMLUNG. Seit 25 Jahren, Kunsthalle Nürnberg 1992, S. 20f
Fünffigurengruppe, 1964
Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst der Stadt Nürnberg
Dauerleihgabe im Neuen Museum Nürnberg
Joannis Avramidis ist Grieche. Er wurde in der Sowjetunion geboren, wohin seine Eltern geflohen waren, um der Unterdrückung der griechischen Minderheit in der Türkei, woher sie stammten, zu entgehen. Aber 1937 unter Stalin, wurde sein Vater in seinem neuen Heimatland zum Opfer der Verfolgung nationaler und sprachlicher Minoritäten. 1939 wanderte die Familie nach Athen aus - und somit in den für ihre Nationalität "zuständigen" Staat ein. Aber schon vier Jahre später kommt Avramidis als Fremdarbeiter nach Wien, dem einstigen Schmelztiegel der multikulturellen Donaumonarchie. Ein europäisches Lebensschicksal?
Die Kunst Avramidis' gehört zur internationalen Moderne, fußt aber in der Bildhauerei des klassisch-antiken Griechenland. Er nimmt somit Bezug auf die kulturellen Wurzeln Europas.
Avramidis ist nicht Bildhauer, sondern Plastiker. Er schlägt nichts weg aus einem größeren Zusammenhang (zum Beispiel einem ursprünglich in sich geschlossenen Steinblock), sondern baut aus kleinteiliger Materie Körper auf. Dabei geht er systematisch vor, indem er den Raum, den der menschliche Körper in der Dreidimensionalität verdrängt, in Form von Profilstudien auf die zweidimensionale Fläche seiner Zeichnungen projiziert. Die Kunsthalle Nürnberg besitzt eine solche Konstruktionszeichnung (vgl. die Abbildung unten). Sie lässt an Bestrebungen von Renaissancekünstlern, wie Piero della Francesca, Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer denken, die, Polyklets Schule folgend, nicht allein durch die Beobachtung der Natur, sondern auch mit Hilfe von Gesetzen und Proportionslehren die Idealform des menschlichen Körpers finden wollten. Avramidis' individueller Kanon entspringt aber weniger der akademischen Tradition, als vielmehr den abstrahierenden Tendenzen der Moderne, die sich gerade in der Skulptur der Nachkriegszeit wieder häufiger figürlichen Formen zuwandte. Avramidis war Schüler von Fritz Wotruba!
in: AUS DER SAMMLUNG. Seit 25 Jahren, Kunsthalle Nürnberg 1992, S. 20f
Fünffigurengruppe, 1964
Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst der Stadt Nürnberg
Dauerleihgabe im Neuen Museum Nürnberg
Joannis Avramidis ist Grieche. Er wurde in der Sowjetunion geboren, wohin seine Eltern geflohen waren, um der Unterdrückung der griechischen Minderheit in der Türkei, woher sie stammten, zu entgehen. Aber 1937 unter Stalin, wurde sein Vater in seinem neuen Heimatland zum Opfer der Verfolgung nationaler und sprachlicher Minoritäten. 1939 wanderte die Familie nach Athen aus - und somit in den für ihre Nationalität "zuständigen" Staat ein. Aber schon vier Jahre später kommt Avramidis als Fremdarbeiter nach Wien, dem einstigen Schmelztiegel der multikulturellen Donaumonarchie. Ein europäisches Lebensschicksal?
Die Kunst Avramidis' gehört zur internationalen Moderne, fußt aber in der Bildhauerei des klassisch-antiken Griechenland. Er nimmt somit Bezug auf die kulturellen Wurzeln Europas.
Avramidis ist nicht Bildhauer, sondern Plastiker. Er schlägt nichts weg aus einem größeren Zusammenhang (zum Beispiel einem ursprünglich in sich geschlossenen Steinblock), sondern baut aus kleinteiliger Materie Körper auf. Dabei geht er systematisch vor, indem er den Raum, den der menschliche Körper in der Dreidimensionalität verdrängt, in Form von Profilstudien auf die zweidimensionale Fläche seiner Zeichnungen projiziert. Die Kunsthalle Nürnberg besitzt eine solche Konstruktionszeichnung (vgl. die Abbildung unten). Sie lässt an Bestrebungen von Renaissancekünstlern, wie Piero della Francesca, Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer denken, die, Polyklets Schule folgend, nicht allein durch die Beobachtung der Natur, sondern auch mit Hilfe von Gesetzen und Proportionslehren die Idealform des menschlichen Körpers finden wollten. Avramidis' individueller Kanon entspringt aber weniger der akademischen Tradition, als vielmehr den abstrahierenden Tendenzen der Moderne, die sich gerade in der Skulptur der Nachkriegszeit wieder häufiger figürlichen Formen zuwandte. Avramidis war Schüler von Fritz Wotruba!
Die skulptural erarbeitete Einzelperson begreift Avramidis als körperliches Gebilde. Ausdehnung und Einziehung setzen sie in Bezug zum sie umgebenden Raum. Der Kopf wölbt sich nach außen. Der Hals schnürt sich ein. Die Schulterpartie greift in den Raum aus. Die Taille tritt zurück. Becken, Oberschenkel, Knie und Wade dehnen sich wie zusammengesetzte und dennoch ineinanderfließende Einzelteile eines Gesamtorganismus' aus. Die Füße werden zum Sockel. Analogien sind gewollt (und in Avramidis' Skulptur und Zeichnung nachweisbar): zum natürlich emporwachsenden Baum einerseits und andererseits zur skulptural erlebbaren griechischen Säule, deren Entasis auf den Druck des Gebälks durch scheinbar organische Ausdehnung reagiert. Avramidis stellt somit den menschlichen Körper gleichzeitig in den Kontext organisch gewachsener Natur und systematisch durchgebildeter Kultur. Das menschliche Individuum wird zum Abstractum "Mensch". Auch in der Statik der Statue bleibt das organisch-dynamische Prinzip menschlichen Lebens fühlbar.
Zum Leben jedes Menschen gehört das Leben seiner Mitmenschen. Dieses Miteinander symbolisieren die Figurengruppen von Avramidis, zum Beispiel die Nürnberger Fünffigurengruppe. Die Einzelkörper durchdringen einander wie die Atome eines Atommodells im Chemieunterricht. Jedes "Atom" bleibt für sich erkennbar, dennoch bildet die "Elektronenhülle" eine einheitliche Haut um die Gesamtfiguration.
Für den Bereich der menschlichen Gesellschaft ist Avramidis' Modell der körperlichen Durchdringung nicht wörtlich zu nehmen. Gemeint ist die geistige Durchdringung der verschiedenen Charaktere, die zusammenwachsen sollten zu einer harmonischen Polis, zu einer Gemeinschaft von Bürgern, die sich in freier Verantwortung für das Gemeinwohl einsetzen. Meint dies das zukünftige Lebensschicksal der Menschen in Europa?