Kocheisen + Hullmann
Günter Braunsberg: Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst
in: TWO. Kocheisen + Hullmann, Kunstverein Nürnberg, Albrecht Dürer Gesellschaft, 1996
unpaginierter Ausstellungskatalog
in: TWO. Kocheisen + Hullmann, Kunstverein Nürnberg, Albrecht Dürer Gesellschaft, 1996
unpaginierter Ausstellungskatalog
TWO
Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst.
Thomas Kocheisen und Ulrike Hullmann bilden ab. Sie wählen ganz alltägliche Ausschnitte unserer Umwelt, halten sie im Foto fest, definieren auf's genaueste das identische Bildformat, die antivirtuose Maltechnik, die sachliche stilistische Grundhaltung. Dann zieht sich jeder in sein Atelier zurück. Ein Austausch findet nicht mehr statt. Jeder malt das verabredete, vordefinierte Bild. Nach Abschluss der Arbeit werden beide Bilder unmanipuliert und kommentarlos nebeneinander gehängt. Erst jetzt wird aus zwei Bildern ein Kunstwerk.
Geht es um ein Bild-Konzept? Zwei Künstler schaffen ein Werk, dessen Aussage nur funktioniert, wenn beide Teile zusammentreten. Die Identität des Einzelbildes und die Identität des Einzelkünstlers werden in Frage gestellt. Aber die Identität des Kunstwerks als Ganzes steht außer Frage.
Worin liegt die Aussage?
Alltägliche Innen- und Außenräume werden ins Bild gesetzt. So alltäglich, dass sie uns, den Betrachtern, nicht weiter aufgefallen wären, stünden sie uns nicht in Form des Bildes gegenüber - herausgelöst, inszeniert, durch Doppelung betont. Kocheisen und Hullmann bringen der Alltäglichkeit eine gespannte Aufmerksamkeit entgegen. Wie im Reagenzglas untersuchen sie unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, indem sie einen eng begrenzten Ausschnitt unserer Umwelt isolieren und analysieren. Aber obwohl jeder in seinem Atelier ein vordefiniertes Bild malt, entsteht keine Identität der beiden Bilder – denn ihre Gegenüberstellung macht klar, dass es für uns Menschen keine objektiv erfassbare Wirklichkeit gibt. Unsere Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit ist immer abhängig von der inneren Wirklichkeit der Persönlichkeitsstruktur eines jeden von uns. Unsere Sinnesorgane und unser bewusstes wie unbewusstes Denken filtern und gewichten die einströmenden Wahrnehmungsimpulse. Beim Malen treffen Thomas Kocheisen und Ulrike Hullmann durchaus individuelle Entscheidungen, die das Einzelbild charakterisieren – aber erst durch die Kombination beider Bilder für den Betrachter nachvollziehbar werden: Vergrößerungen? Verkleinerungen? Weglassen von Bildteilen? Mehr oder weniger Schlagschatten? Ein hellerer oder ein dunklerer Gesamteindruck?
Kocheisen und Hullmann bilden nicht nur ab. Sie machen sichtbar. Trotz – oder gerade wegen – aller verabredeten Sachlichkeit in Malstil und Bild-Konzept entsteht eine ganz unmittelbare sinnliche Wirkung. Das Verharren im fixierten Augenblick, das Anhalten der dahinfließenden Zeit, evoziert Stille. Eine innere Stille, die Bedrohlichkeit – aber auch Hoffnung – einschließen kann. Obwohl meist abwesend, steht der Mensch im Zentrum des Interesses. Unberührte Natur kommt nicht vor, sondern nur Lebensräume, die charakterisiert werden durch vom Menschen geschaffenen Dinge (Möbel, Haushaltsgeräte, Spielzeug – und draußen: Häuser, Straßenschilder, Campingplätze). Wurde der im Bild festgehaltenen Raum nur für einen Moment verlassen? Wird der Bewohner jemals wiederkehren? War er nur Gast in seinen Räumen? Es geht um Grundfragen der menschlichen Existenz, um: geboren werden, vermisst werden, sterben.
Aber es geht nicht nur um eine Reflexion über das Leben mit Mitteln der Kunst, sondern ebenso um die Kunst, die ihre Kraft aus dem Leben der Künstler zieht. Thomas Kocheisen und Ulrike Hullmann leben und arbeiten seit 1986 zusammen. Von 1986 bis 1988 stellten sie sich abstrakte Themen, definierten Format und Technik und arbeiteten dann in ihren getrennten Ateliers. Seit 1988 konzentrieren sie sich auf gegenständliche Malerei im traditionellen Sinn. Dadurch konkretisieren sie die Aussage ihres Bild-Konzeptes. Heute spielen nur in den Viererkombinationen (die eine Ausnahme darstellen) abstrakte Bildfindungen eine Rolle. Hier unterstreichen sie durch ihre Zusammenstellung mit den gegenständlichen Bildpaaren die künstlerische Freiheit, die von den Künstlern durch selbstgewählte Regeln in sinngebende Bahnen gelenkt wird. die Abstraktion symbolisiert die innere Wirklichkeit, die mit der äußeren Wirklichkeit der gegenständlichen Welt in eine Wechselbeziehung tritt. Auffallend ist auch, dass ausgerechnet bei Sechs Kinder an der Dusche (wo ausnahmsweise Menschen abgebildet werden) der künstlerische Aspekt der Abstrakten Bildkomposition besonders dominierend in den Vordergrund tritt, während die inhaltlichen Fragen nach der menschlichen Existenz völlig in den Hintergrund treten.
Kocheisen und Hullmann loten die Grenzen unserer Wahrnehmung aus. Nur auf den ersten Blick bilden sie lediglich die äußere Wirklichkeit ab. Auf den zweiten Blick markieren ihre Bild-Werke die Schwelle zwischen Außen und Innen, zwischen der Banalität der alltäglichen Welt und der Faszination der Welt unserer Gefühle und Ideen, die dahinter liegen.