Oswaldo Forty
Günter Braunsberg: Augen & Blicke, in: Oswaldo Forty. Hans-Georg Geis Collection, Nürnberg 2007, S. 29-31
Augen & Blicke
Ein alter Mythos der Tupi-Guarani, der Ureinwohner von Paraná im Süden Brasiliens, besagt, dass jeder, der durch den Urwald streift, von den Augen der Anhangà, der Gottheit der Jagd und der Natur, beobachtet wird. Bei Verstoß gegen die göttlichen Gesetze droht Strafe! So wird zum Beispiel ein Jäger, der ein Tier erlegt das Junge aufzieht, von den Augen der Anhangà verfolgt und verhext. Fieber, Halluzinationen und Wahnsinn sind die Folgen. Gilt dies auch für die heutigen Zerstörer der Natur? Auch sie brechen ewige, göttliche Gesetze!
Forty, dessen Abstammung sehr stark geprägt ist durch seine Tupi-Guarani-Vorfahren, der aber auch einen europäischen Großvater hat, nimmt in einer Installation auf den alten Anhangà-Mythos bezug. In einem abgedunkelten Raum, der lediglich durch grelle Spots Licht erhält, hängen sechs Bildobjekte in Pupillenform (zum Beispiel: Iris, cat 16) an dünnen Fäden von der Decke herab. Der Fußboden ist bedeckt mit Blattwerk und Ästen aus dem Wald. Die bunten Farben und kreisenden oder pendelnden Bewegungen der schwebenden Pupillen-Bilder, die kontrastreichen Licht- und Schattenwirkungen, der intensive Waldgeruch und das in-der-Installation-Sein des Betrachters verwandeln Poesie und Inhalt des Anhangà-Mythos zu einem plastisch erlebbaren Kunstwerk. Forty nutzt alte Indio-Symbole, wie die traditionelle Anhangà-Darstellung in Form von Augen kombiniert mit starkem Licht, als Ausgangspunkt für eine künstlerische Arbeit, die in den Kontext der internationalen zeitgenössischen Kunst gehört. Er bezieht sich nicht auf den einsamen Indio-Jäger, der ein Tier erlegt, sondern auf den modernen Menschen und dessen fragwürdiges Verhältnis zu Natur und Welt. Wo stehe ich als Individuum? Bin ich noch Teil des Netzwerks das die Welt zusammenhält, oder bin ich längst durch die Maschen gefallen?
Augen, Köpfe, Gesichtsausdrücke dominieren die Werkgruppe Substrato Humano - großformatige Gemälde, in denen Forty in den neunziger Jahren gewissermaßen ein Destillat des Menschlichen aus der verwirrenden Vielfalt der Welt filterte. In Europa wurden diese Gemälde sehr positiv aufgenommen, denn einerseits leugneten sie nicht ihre brasilianischen Wurzeln, andererseits fügten sie sich mit großer Selbstverständlichkeit in die Entwicklung der internationalen zeitgenössischen Kunst ein, die sich nach den antimalerischen Extrempositionen der Konzept-Kunst der siebziger Jahre erneut der Malerei zugewandt hatte. Gerade in Deutschland trat zu Beginn der achtziger Jahre eine neue expressive Malerei auf, die nicht nur figürliches und gegenständliches thematisierte, sonder in unterschiedlichsten Variationen inhaltliches, erzählerisches, gesellschaftskritisches, selbst symbolisches und transzendentales wieder zuließ. Dies verdeutlicht ein Blick auf damals erschienene Texte zu Forty:
Er versucht unter Einbeziehung der stimulierenden Sinnlichkeit der Leinwand ein Spiel des Gebens und Nehmens von aus Emotionen entstandener und gleichzeitig Emotionen auslösender Malerei zu betreiben. Er weckt Zauberwesen aus der Erinnerung, aus verlorengegangenen Zeiten, die aus dem Bewusstsein bzw. Unterbewusstsein aufsteigen in die virtuelle Zeit, in der wir leben. (1)
Die Köpfe in den Bildern Oswaldo Fortys sind Individuen und Masse, sind Handelnde und Behandelte, sind Schreiende und Schweigende, sind Peiniger und Dulder. In der Reihung wird das Individuum zum Glied einer Kette, zur Randerscheinung oder zum Mittelpunkt, es scheint unterzugehen in der Menge und doch behält es seine unterscheidbare Ausdrucksweise, wenn sie auch noch so knapp differenziert scheint. Die Durchsicht der Details in seinen Bildern macht mit völlig unterschiedlichen Charakteren bekannt, enthüllt uns geläufige, selbst erlebte oder vermittelte Reaktionen, spiegelt Situationen zwischen Leiden und Aufbegehren, zwischen Unterdrücken und Standhalten, zwischen Allmacht und Ohnmacht, zwischen Aktion und Passion.(2)
Wahrnehmungen gesellschaftlicher Wirklichkeit scheinen nicht nur im gesprochenen oder geschriebenen Wort auf. Sie spiegeln sich auch in künstlerischen Ausdrucksformen wider. Oswaldo Forty blickt mit seinen Arbeiten zurück auf seine Kindheit, auf die Kultur der Tupi-Indios. Er überträgt intuitiv die Wurzeln seiner indianischen Herkunft in die zeitgenössische Malerei. Rückbezüge auf Vergangenes, die Beobachtung der Menschen und die religiöse Ikonographie der Indios sind Elemente seiner Wahrnehmung und seines Schaffens. (3)
Betrachten wir die Forty-Gemälde der Sammlung Geis, welche der Werkgruppe Substrato Humano zuzuordnen sind, so fällt einerseits ihr malerischer und andererseits ihr inhaltlicher Aspekt ins Auge. Farbschichten, Farbstrukturen, Farbe als Bewegungsspur, aber auch Liniengeflechte und einmontierte Worte bestimmen Erscheinungsbild und Wirkung der Arbeiten. Die Malerei dominiert, aber in sie integriert sind Elemente von Zeichnung und Collage. Die Gewichtung der Einzelelemente kann von Bild zu Bild sehr unterschiedlich sein. So lösen zum Beispiel beim Betrachter bunte Farbstrukturen ganz andere Emotionen aus als grau-in-graue Flächenballungen. Lineare Zeichen und kaum entschlüsselbare Worte können, abgesehen von ihrem gestalterischen Potential, auch zu geheimnisvollen Chiffren, verschlüsselten Gedankensplittern werden. Aber erst durch das Auftreten der Figur im Bild, die (in dieser Werkgruppe) grundsätzlich von Kopf, Auge und Blick dominiert wird, verklammert sich die Bild-Welt ganz unmittelbar mit der Welt des Betrachters. Unser Blick trifft die aus dem Bild auf uns gerichteten Blicke. Die außergewöhnliche, aus der Malerei geschöpfte Kraft der Bilder hakt sich dank ihrer emotional wahrgenommenen Inhaltlichkeit in die Persönlichkeitsstruktur des Betrachters fest. Handelnde und Behandelte, Schreiende und Schweigende, Peiniger und Dulder – wo stehe ich? Kann man mit solchen Bildern leben? Oder sollte man sich ihren Kräften (statt sie ständig im Wohnraum um sich zu haben) nur ab und zu im Galerie- oder Museumsraum aussetzen? Sollte man diese Menschen-Bilder nur dann besuchen, wenn man wirklich bereit ist seine Gedanken mit ihnen auszutauschen?
Die Sammlung Geis umfasst nicht nur Substrato Humano-Bilder, sondern ermöglicht einen breiteren Überblick über Fortys Werkgruppen. Eine frühe Arbeit (Iakiras, cat 1) zeigt einen weiblichen Akt, dessen üppige Proportionen an Botero denken lassen, der seit langem ein Repräsentant Lateinamerikas innerhalb der internationalen Kunstwelt ist. Aber im Gegensatz zu ihm betont Forty nicht die pralle Plastizität des Körpers, sondern die flache, durch einen scharfen und markanten Umriss gekennzeichnete Silhouette der lagernden Figur, die er zu einem Element der Farbflächenkomposition des Bildes macht. In anderen Arbeiten (Amazonia cat. 3) verzichtet Forty ganz auf Körpervolumen und konzentriert sich stattdessen auf Gesten, die an die Symbolik Penckscher Strichmännchen anzuknüpfen scheinen, welche in Brasilien sicher nicht erst seit der Biennale von Sao Paulo 1987 bekannt sind. Weiterhin ist Malerei als Abstraktionsprozess immer wieder ein Thema für Forty (zum Beispiel: Balé do Breú, cat 23). Figürlichkeit tritt dann ganz in den Hintergrund, sodass sich der Betrachter wenn er Gegenständlichkeit wahrzunehmen glaubt selbst fragt, ob dies vom Künstler gewollt ist, oder eher durch eigene Assoziationen ins Bild hineingesehen wird.
Charakteristisch für Forty ist es auch, dass er Elemente zurückliegender Werkgruppen immer wieder aufgreift. So malte er nach den Eindrücken des Ponte Cultura Workshops 2004 ein sehr erzählerisches Erinnerungsbild (Lentidao, cat 28), das formale Elemente der Substrato Humano-Bilder nutzt aber eine ganz andere freundlich-mediterrane Atmosphäre verkörpert. Und in einer umfangreichen Serie kleinformatiger Kopf-Bilder, die in den letzten Jahren entstanden, konzentriert sich Forty ganz auf den Einzelkopf und seine Ausdrucksmöglichkeiten.
Einige der pupillenförmigen Bildobjekte der eingangs beschriebenen Anhangà-Installation treten (kaum wiedererkennbar) in neueren Arbeiten auf. Forty fixiert sie auf eine rechteckige Bildfläche und übermalt sie weiß. Ihre ursprüngliche Buntfarbigkeit entzieht sich jetzt den Blicken des Betrachters, aber sie bleibt unter dem hellen Schleier fühlbar. Die Anhangà-Problematik tritt zurück um Raum zu geben für Helligkeit und Licht. Der Gottes-Mythos wird zur abstrakteren Transzendenz-Idee.
Aber ich die Welt ich sehe Dich steht an der Innenfassade des Neuen Museums Nürnberg. Der schweizer Künstler Remy Zaugg, welcher auch in seinen Tafelbildern mit Worten das Verhältnis zwischen Betrachter und Kunstwerk diskutiert, lies diesen Schriftzug an die Wand schreiben. Dadurch stößt er Überlegungen an, wie: Wo stehe ich als Individuum? Bin ich noch Teil dieser Welt? Oder bin ich als moderner Mensch so isoliert, dass ich nicht mehr dazu gehöre? Was ist die Welt, die mich angeblich sieht? Keine Gottheit? Dennoch im Blick?
Forty scheint auf den ersten Blick in einen ganz anderen Kontext zu gehören. Aber ist der Widerspruch tatsächlich so groß? Warum sollte Forty nicht mit dem eingangs zitierten Anhangà-Mythos seine eigenen Indio-Wurzeln aufgreifen um sie als Fundament für seine Positionierung in der Welt der internationalen zeitgenössischen Kunst zu nutzen. Dies ist kein Widerspruch, sondern eine Kraftquelle für die Zukunft. Gerade die Kunst Lateinamerikas, die seit langem eng mit der Kunstentwicklung in Europa und Nordamerika verbunden ist, erlebt zur Zeit ein neu intensiviertes internationales Interesse.
(1) Alberto Beuttenmüller: Oswaldo Forty und die brasilianische Kunst, in: Erinnerung und Ausblick. Oswaldo Forty. Zeitgenössische Malerei aus Brasilien, Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 1996, S. 8
(2) Frank Günter Zehender: Köpfe, Häupter, Schädel. Zum Menschenbild bei Oswaldo Forty, in: Erinnerung und Ausblick. Oswaldo Forty. Zeitgenössische Malerei aus Brasilien, Thomas-Morus- Akademie Bensberg, 1996, S. 10
(3) Wolfgang Isenberg, Vorwort zu: Erinnerung und Ausblick. Oswaldo Forty. Zeitgenössische Malerei aus Brasilien, Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 1996, S. 3
Augen & Blicke
Ein alter Mythos der Tupi-Guarani, der Ureinwohner von Paraná im Süden Brasiliens, besagt, dass jeder, der durch den Urwald streift, von den Augen der Anhangà, der Gottheit der Jagd und der Natur, beobachtet wird. Bei Verstoß gegen die göttlichen Gesetze droht Strafe! So wird zum Beispiel ein Jäger, der ein Tier erlegt das Junge aufzieht, von den Augen der Anhangà verfolgt und verhext. Fieber, Halluzinationen und Wahnsinn sind die Folgen. Gilt dies auch für die heutigen Zerstörer der Natur? Auch sie brechen ewige, göttliche Gesetze!
Forty, dessen Abstammung sehr stark geprägt ist durch seine Tupi-Guarani-Vorfahren, der aber auch einen europäischen Großvater hat, nimmt in einer Installation auf den alten Anhangà-Mythos bezug. In einem abgedunkelten Raum, der lediglich durch grelle Spots Licht erhält, hängen sechs Bildobjekte in Pupillenform (zum Beispiel: Iris, cat 16) an dünnen Fäden von der Decke herab. Der Fußboden ist bedeckt mit Blattwerk und Ästen aus dem Wald. Die bunten Farben und kreisenden oder pendelnden Bewegungen der schwebenden Pupillen-Bilder, die kontrastreichen Licht- und Schattenwirkungen, der intensive Waldgeruch und das in-der-Installation-Sein des Betrachters verwandeln Poesie und Inhalt des Anhangà-Mythos zu einem plastisch erlebbaren Kunstwerk. Forty nutzt alte Indio-Symbole, wie die traditionelle Anhangà-Darstellung in Form von Augen kombiniert mit starkem Licht, als Ausgangspunkt für eine künstlerische Arbeit, die in den Kontext der internationalen zeitgenössischen Kunst gehört. Er bezieht sich nicht auf den einsamen Indio-Jäger, der ein Tier erlegt, sondern auf den modernen Menschen und dessen fragwürdiges Verhältnis zu Natur und Welt. Wo stehe ich als Individuum? Bin ich noch Teil des Netzwerks das die Welt zusammenhält, oder bin ich längst durch die Maschen gefallen?
Augen, Köpfe, Gesichtsausdrücke dominieren die Werkgruppe Substrato Humano - großformatige Gemälde, in denen Forty in den neunziger Jahren gewissermaßen ein Destillat des Menschlichen aus der verwirrenden Vielfalt der Welt filterte. In Europa wurden diese Gemälde sehr positiv aufgenommen, denn einerseits leugneten sie nicht ihre brasilianischen Wurzeln, andererseits fügten sie sich mit großer Selbstverständlichkeit in die Entwicklung der internationalen zeitgenössischen Kunst ein, die sich nach den antimalerischen Extrempositionen der Konzept-Kunst der siebziger Jahre erneut der Malerei zugewandt hatte. Gerade in Deutschland trat zu Beginn der achtziger Jahre eine neue expressive Malerei auf, die nicht nur figürliches und gegenständliches thematisierte, sonder in unterschiedlichsten Variationen inhaltliches, erzählerisches, gesellschaftskritisches, selbst symbolisches und transzendentales wieder zuließ. Dies verdeutlicht ein Blick auf damals erschienene Texte zu Forty:
Er versucht unter Einbeziehung der stimulierenden Sinnlichkeit der Leinwand ein Spiel des Gebens und Nehmens von aus Emotionen entstandener und gleichzeitig Emotionen auslösender Malerei zu betreiben. Er weckt Zauberwesen aus der Erinnerung, aus verlorengegangenen Zeiten, die aus dem Bewusstsein bzw. Unterbewusstsein aufsteigen in die virtuelle Zeit, in der wir leben. (1)
Die Köpfe in den Bildern Oswaldo Fortys sind Individuen und Masse, sind Handelnde und Behandelte, sind Schreiende und Schweigende, sind Peiniger und Dulder. In der Reihung wird das Individuum zum Glied einer Kette, zur Randerscheinung oder zum Mittelpunkt, es scheint unterzugehen in der Menge und doch behält es seine unterscheidbare Ausdrucksweise, wenn sie auch noch so knapp differenziert scheint. Die Durchsicht der Details in seinen Bildern macht mit völlig unterschiedlichen Charakteren bekannt, enthüllt uns geläufige, selbst erlebte oder vermittelte Reaktionen, spiegelt Situationen zwischen Leiden und Aufbegehren, zwischen Unterdrücken und Standhalten, zwischen Allmacht und Ohnmacht, zwischen Aktion und Passion.(2)
Wahrnehmungen gesellschaftlicher Wirklichkeit scheinen nicht nur im gesprochenen oder geschriebenen Wort auf. Sie spiegeln sich auch in künstlerischen Ausdrucksformen wider. Oswaldo Forty blickt mit seinen Arbeiten zurück auf seine Kindheit, auf die Kultur der Tupi-Indios. Er überträgt intuitiv die Wurzeln seiner indianischen Herkunft in die zeitgenössische Malerei. Rückbezüge auf Vergangenes, die Beobachtung der Menschen und die religiöse Ikonographie der Indios sind Elemente seiner Wahrnehmung und seines Schaffens. (3)
Betrachten wir die Forty-Gemälde der Sammlung Geis, welche der Werkgruppe Substrato Humano zuzuordnen sind, so fällt einerseits ihr malerischer und andererseits ihr inhaltlicher Aspekt ins Auge. Farbschichten, Farbstrukturen, Farbe als Bewegungsspur, aber auch Liniengeflechte und einmontierte Worte bestimmen Erscheinungsbild und Wirkung der Arbeiten. Die Malerei dominiert, aber in sie integriert sind Elemente von Zeichnung und Collage. Die Gewichtung der Einzelelemente kann von Bild zu Bild sehr unterschiedlich sein. So lösen zum Beispiel beim Betrachter bunte Farbstrukturen ganz andere Emotionen aus als grau-in-graue Flächenballungen. Lineare Zeichen und kaum entschlüsselbare Worte können, abgesehen von ihrem gestalterischen Potential, auch zu geheimnisvollen Chiffren, verschlüsselten Gedankensplittern werden. Aber erst durch das Auftreten der Figur im Bild, die (in dieser Werkgruppe) grundsätzlich von Kopf, Auge und Blick dominiert wird, verklammert sich die Bild-Welt ganz unmittelbar mit der Welt des Betrachters. Unser Blick trifft die aus dem Bild auf uns gerichteten Blicke. Die außergewöhnliche, aus der Malerei geschöpfte Kraft der Bilder hakt sich dank ihrer emotional wahrgenommenen Inhaltlichkeit in die Persönlichkeitsstruktur des Betrachters fest. Handelnde und Behandelte, Schreiende und Schweigende, Peiniger und Dulder – wo stehe ich? Kann man mit solchen Bildern leben? Oder sollte man sich ihren Kräften (statt sie ständig im Wohnraum um sich zu haben) nur ab und zu im Galerie- oder Museumsraum aussetzen? Sollte man diese Menschen-Bilder nur dann besuchen, wenn man wirklich bereit ist seine Gedanken mit ihnen auszutauschen?
Die Sammlung Geis umfasst nicht nur Substrato Humano-Bilder, sondern ermöglicht einen breiteren Überblick über Fortys Werkgruppen. Eine frühe Arbeit (Iakiras, cat 1) zeigt einen weiblichen Akt, dessen üppige Proportionen an Botero denken lassen, der seit langem ein Repräsentant Lateinamerikas innerhalb der internationalen Kunstwelt ist. Aber im Gegensatz zu ihm betont Forty nicht die pralle Plastizität des Körpers, sondern die flache, durch einen scharfen und markanten Umriss gekennzeichnete Silhouette der lagernden Figur, die er zu einem Element der Farbflächenkomposition des Bildes macht. In anderen Arbeiten (Amazonia cat. 3) verzichtet Forty ganz auf Körpervolumen und konzentriert sich stattdessen auf Gesten, die an die Symbolik Penckscher Strichmännchen anzuknüpfen scheinen, welche in Brasilien sicher nicht erst seit der Biennale von Sao Paulo 1987 bekannt sind. Weiterhin ist Malerei als Abstraktionsprozess immer wieder ein Thema für Forty (zum Beispiel: Balé do Breú, cat 23). Figürlichkeit tritt dann ganz in den Hintergrund, sodass sich der Betrachter wenn er Gegenständlichkeit wahrzunehmen glaubt selbst fragt, ob dies vom Künstler gewollt ist, oder eher durch eigene Assoziationen ins Bild hineingesehen wird.
Charakteristisch für Forty ist es auch, dass er Elemente zurückliegender Werkgruppen immer wieder aufgreift. So malte er nach den Eindrücken des Ponte Cultura Workshops 2004 ein sehr erzählerisches Erinnerungsbild (Lentidao, cat 28), das formale Elemente der Substrato Humano-Bilder nutzt aber eine ganz andere freundlich-mediterrane Atmosphäre verkörpert. Und in einer umfangreichen Serie kleinformatiger Kopf-Bilder, die in den letzten Jahren entstanden, konzentriert sich Forty ganz auf den Einzelkopf und seine Ausdrucksmöglichkeiten.
Einige der pupillenförmigen Bildobjekte der eingangs beschriebenen Anhangà-Installation treten (kaum wiedererkennbar) in neueren Arbeiten auf. Forty fixiert sie auf eine rechteckige Bildfläche und übermalt sie weiß. Ihre ursprüngliche Buntfarbigkeit entzieht sich jetzt den Blicken des Betrachters, aber sie bleibt unter dem hellen Schleier fühlbar. Die Anhangà-Problematik tritt zurück um Raum zu geben für Helligkeit und Licht. Der Gottes-Mythos wird zur abstrakteren Transzendenz-Idee.
Aber ich die Welt ich sehe Dich steht an der Innenfassade des Neuen Museums Nürnberg. Der schweizer Künstler Remy Zaugg, welcher auch in seinen Tafelbildern mit Worten das Verhältnis zwischen Betrachter und Kunstwerk diskutiert, lies diesen Schriftzug an die Wand schreiben. Dadurch stößt er Überlegungen an, wie: Wo stehe ich als Individuum? Bin ich noch Teil dieser Welt? Oder bin ich als moderner Mensch so isoliert, dass ich nicht mehr dazu gehöre? Was ist die Welt, die mich angeblich sieht? Keine Gottheit? Dennoch im Blick?
Forty scheint auf den ersten Blick in einen ganz anderen Kontext zu gehören. Aber ist der Widerspruch tatsächlich so groß? Warum sollte Forty nicht mit dem eingangs zitierten Anhangà-Mythos seine eigenen Indio-Wurzeln aufgreifen um sie als Fundament für seine Positionierung in der Welt der internationalen zeitgenössischen Kunst zu nutzen. Dies ist kein Widerspruch, sondern eine Kraftquelle für die Zukunft. Gerade die Kunst Lateinamerikas, die seit langem eng mit der Kunstentwicklung in Europa und Nordamerika verbunden ist, erlebt zur Zeit ein neu intensiviertes internationales Interesse.
(1) Alberto Beuttenmüller: Oswaldo Forty und die brasilianische Kunst, in: Erinnerung und Ausblick. Oswaldo Forty. Zeitgenössische Malerei aus Brasilien, Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 1996, S. 8
(2) Frank Günter Zehender: Köpfe, Häupter, Schädel. Zum Menschenbild bei Oswaldo Forty, in: Erinnerung und Ausblick. Oswaldo Forty. Zeitgenössische Malerei aus Brasilien, Thomas-Morus- Akademie Bensberg, 1996, S. 10
(3) Wolfgang Isenberg, Vorwort zu: Erinnerung und Ausblick. Oswaldo Forty. Zeitgenössische Malerei aus Brasilien, Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 1996, S. 3