Richard Serra
Günter Braunsberg: Richard Serra. Drawing Weitmar IV
in: AUS DER SAMMLUNG. Seit 25 Jahren, Kunsthalle Nürnberg 1992, S. 23
in: AUS DER SAMMLUNG. Seit 25 Jahren, Kunsthalle Nürnberg 1992, S. 23
Drawing Weitmar IV, 1984
Paintstick auf Papier, 98,5x135,7 cm, bez. unten links: RS 84
Inv.-Nr. 732, erworben 1986 für die Sammlung internationaler zeitgenössischer
Kunst der Stadt Nürnberg, Dauerleihgabe im Neuen Museum Nürnberg
Nie fertige ich zeichnerische Entwürfe für Plastiken an. Zeichnen ist eine unabhängige Tatigkeit mit einer eigenständigen Entwicklung und mit ihren eigenen Begleitumständen und Problemen.
Stahlskulpturen, die mit Hilfe großdimensionierter, wandartiger Stahlplatten städtische Plätze oder Naturräume, aber auch Galerie- und Museumsräume strukturieren und physisch erlebbar machen, sind die bekanntesten Werke des Amerikaners Richard Serra. Seit 1971 entwickelte er aber auch die Zeichnung zu einem autonomen Bestandteil seines Oeuvres. Bei den extrem großen Beispielen liegen hierbei raumgestalterische Fragestellungen auf der Hand. Vollständig geschwärzte, direkt von der Rolle abgeschnittene Leinwände, die unmittelbar an der Wand des Ausstellungsraums befestigt werden, nutzen die Wand als Bildträger. Der sie umgebende Raum erhält durch ihre Anbringung eine neue Wahrnehmungsdimension. Serras kleinere Zeichnungen, wie Weitmar IV scheinen andere, auf den ersten Blick traditionellere Fragen aufzuwerfen. Insbesondere wenn sie gerahmt sind wird deutlich, daß sie sich nicht auf einen Raum, sondern auf die Fläche ihres papiernen Bildträgers beziehen. Geht es Richard Serra bei dieser Werkgruppe um klassische Form/Grund-Probleme?
Das Gewicht einer Zeichnung hängt nicht nur von der Zahl der Paintstick-Schichten ab, sondern hauptsächlich von der besonderen Form der Zeichnung. Von Mantegnas Christus bis zu Cezannes Äpfeln ist es offensichtlich, daß Formen Gewicht, Masse und Volumen implizieren können. Ein Quadrat wirkt gravitationsmäßig schwerer als ein Rechteck, ein Trapezoid wirkt schwerer als ein Rhombus. Das Dreieck ist eine leichte, flinke Form.
Die Form als Gewicht ist ein optisches Phänomen und gleichzeitig ein Problem unserer Empfindung. InWeitmar IV nehmen wir die Unterkante des Papierformats als eine Art Horizont wahr. Durch ihre Abschrägung, die links unten den weißen Grund freigibt, erscheint die schwarze Form leichter und "schwebender", als dies bei einem quergelagerten Rechteck der Fall wäre. Ihr Gewicht tendiert zu Schwerelosigkeit. Serra zeichnet ausschließlich mit schwarzem Paintstick, einem Material, das bei der Herstellung von Ölfarbe als Abfallprodukt anfällt und in Stiftform oder als ungeformter Klumpen vor allem bei amerikanischen Künstlern Verwendung findet. Serra erwähnt drei Möglichkeiten des Auftrags: trocken auf trocken, naß auf trocken, naß auf naß. Die Nürnberger Arbeit dürfte zur zweiten Kategorie gehören, da deutlich erkennbare horizontale und vertikale Strichlagen stellenweise von unregelmäßigen Farbplatten überlagert werden, die sich sogar etwas über die Oberkante des Blattes hinausschieben können. Insgesamt verbindet sich die Ölfarbe zu einer homogenen Schicht, deren haptische Materialeigenschaften einen Gegenpol zum verbliebenen Rest des weißen Papier-Grundes bildet. Das Schwarz ist nicht nur Farbe, sondern Material. Seine spezifische Oberflächenstruktur löst differenzierte Reliefwirkungen aus. Sein Glanz mildert sein Dunkel.
Die Verwendung von Schwarz ist die klarste Methode, eine Markierung gegen eine weiße Fläche zu setzen. ... Es ist auch die klarste Methode, etwas zu kennzeichnen, ohne Assoziationen auszulösen. ... Schwarz ist eine Eigenart, keine Eigenschaft. Als Gewicht verstanden, ist Schwarz schwerer, schafft ein größeres Volumen und läßt sich in einem Feld auf die Fläche komprimieren.
Abgesehen von ihren Qualitäten als autonome Zeichnungen läßt sich die Werkgruppe Weitmar I-V (vgl. Wvz-Nr 252-256) auch auf Serras hoch aufgerichtete Stahlwandskulptur Weitmar von 1984 beziehen, deren optisch wahrnehmbare Materialschwere durch ihre gebogene und schräggestellte Form gemildert wird. Vergleichbar mit den Abschrägungen der schwarzen Flächen.
Zeichnen ist eine andere Art Sprache. Wenn man etwas verstehen will, muß man es häufig entweder isolieren oder sich ihm in einer anderen Sprache nähern.
(Zitate von Serra: Notizen über das Zeichnen, in: Richard Serra. Drawings. Zeichnungen.
1969-1990, Bern 1990, S. 13 ff)
Head-Foto: Neues Museum Nürnberg 2015, Willi Nemski
Das Gewicht einer Zeichnung hängt nicht nur von der Zahl der Paintstick-Schichten ab, sondern hauptsächlich von der besonderen Form der Zeichnung. Von Mantegnas Christus bis zu Cezannes Äpfeln ist es offensichtlich, daß Formen Gewicht, Masse und Volumen implizieren können. Ein Quadrat wirkt gravitationsmäßig schwerer als ein Rechteck, ein Trapezoid wirkt schwerer als ein Rhombus. Das Dreieck ist eine leichte, flinke Form.
Die Form als Gewicht ist ein optisches Phänomen und gleichzeitig ein Problem unserer Empfindung. InWeitmar IV nehmen wir die Unterkante des Papierformats als eine Art Horizont wahr. Durch ihre Abschrägung, die links unten den weißen Grund freigibt, erscheint die schwarze Form leichter und "schwebender", als dies bei einem quergelagerten Rechteck der Fall wäre. Ihr Gewicht tendiert zu Schwerelosigkeit. Serra zeichnet ausschließlich mit schwarzem Paintstick, einem Material, das bei der Herstellung von Ölfarbe als Abfallprodukt anfällt und in Stiftform oder als ungeformter Klumpen vor allem bei amerikanischen Künstlern Verwendung findet. Serra erwähnt drei Möglichkeiten des Auftrags: trocken auf trocken, naß auf trocken, naß auf naß. Die Nürnberger Arbeit dürfte zur zweiten Kategorie gehören, da deutlich erkennbare horizontale und vertikale Strichlagen stellenweise von unregelmäßigen Farbplatten überlagert werden, die sich sogar etwas über die Oberkante des Blattes hinausschieben können. Insgesamt verbindet sich die Ölfarbe zu einer homogenen Schicht, deren haptische Materialeigenschaften einen Gegenpol zum verbliebenen Rest des weißen Papier-Grundes bildet. Das Schwarz ist nicht nur Farbe, sondern Material. Seine spezifische Oberflächenstruktur löst differenzierte Reliefwirkungen aus. Sein Glanz mildert sein Dunkel.
Die Verwendung von Schwarz ist die klarste Methode, eine Markierung gegen eine weiße Fläche zu setzen. ... Es ist auch die klarste Methode, etwas zu kennzeichnen, ohne Assoziationen auszulösen. ... Schwarz ist eine Eigenart, keine Eigenschaft. Als Gewicht verstanden, ist Schwarz schwerer, schafft ein größeres Volumen und läßt sich in einem Feld auf die Fläche komprimieren.
Abgesehen von ihren Qualitäten als autonome Zeichnungen läßt sich die Werkgruppe Weitmar I-V (vgl. Wvz-Nr 252-256) auch auf Serras hoch aufgerichtete Stahlwandskulptur Weitmar von 1984 beziehen, deren optisch wahrnehmbare Materialschwere durch ihre gebogene und schräggestellte Form gemildert wird. Vergleichbar mit den Abschrägungen der schwarzen Flächen.
Zeichnen ist eine andere Art Sprache. Wenn man etwas verstehen will, muß man es häufig entweder isolieren oder sich ihm in einer anderen Sprache nähern.
(Zitate von Serra: Notizen über das Zeichnen, in: Richard Serra. Drawings. Zeichnungen.
1969-1990, Bern 1990, S. 13 ff)
Head-Foto: Neues Museum Nürnberg 2015, Willi Nemski