Tadeusz Kantor
Günter Braunsberg: Tadeusz Kantor. Emballage, objets, personnages nr. III
in: AUS DER SAMMLUNG. Seit 25 Jahren, Kunsthalle Nürnberg 1992
Emballages, objets, personnages nr. III, 1968
Tempera und roter Schirm, Collage auf Leinwand, 130 x 220 cm, Inv.-Nr 12/68
erworben 1968 für die Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst der
Stadt Nürnberg, Dauerleihgabe im Neuen Museum Nürnberg
Tadeusz Kantor gehörte zu jenen Künstlern Polens, denen es gleich nach dem Krieg gelang - nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch auf internationaler Ebene - eine Position einzunehmen, die es der sozialistischen Kulturpolitik kaum ermöglichte doktrinäre Kunstvorstellungen gegen sie durchzusetzen. Er machte seine Landsleute mit den Ideen der Surrealisten bekannt, die Lautreamonts Sentenz "schön, wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch" zu ihrem Leitmotiv gewählt hatten. Er griff Theorien und Methoden des Informel auf - wobei es ihm aber weniger um den spontanen Malakt als Arbeitsmethode zur Herstellung von Bildern ging, als vielmehr um die Aktion selbst. Und er verband die damals aktuellen Bestrebungen der Malerei mit Anregungen des absurden Theaters, um daraus ganz eigenständige Happenings und Aktionen zu entwickeln, welche die Kluft zwischen dem Kunstwerk und dem Publikum zu überwinden suchten. Heute gilt er in erster Linie als Reformator des Avantgarde-Theaters. Mit dem von ihm 1956 gegründeten Theater Cricot 2 bereiste er jahrzehntelang Europa.
CREDO / Man sieht sich ein Teaterstück / nicht wie ein Bild an, / der ästhetischen Empfindungen wegen, sondern man erlebt sie wirklich. / Ich habe keine künstlichen Regeln, / ich fühle mich mit keinen vergangenen Epochen verbunden, / sie sind mir fremd, und sie interessieren mich nicht. / Ich empfinde nur eine große Verpflichtung der Zeit gegenüber, / in der ich lebe und den Menschen gegenüber, die rund um mich leben. / Ich glaube, daß die Ganzheit neben der Sensibilität / auch die Barbarei in sich fassen kann, / neben dem ungenierten Lachen auch die Tragik, / daß die Ganzheit durch die Kontraste entsteht, und je größer die Kontraste sind, / desto spürbarer, realer, / lebendiger wird die Ganzheit.
Ein wichtiges Glied im größeren, zusammengehörenden Organismus von Kantors Kunst ist seine Malerei. So wie für ihn die Bühne einen Raum der Phantasie darstellte, so reizte ihn auch die Fläche dazu, Aspekte des täglichen Lebens miteinander zu konfrontieren. Ihm ging es um die Verbindung von Kunst und Leben. Malerei ist die Manifestation des Lebens.
Die Frage "Warum male ich?" klingt wie die Frage: "Warum lebe ich?" / Das Sein in der Zeit, das Vergehen in der Zeit, / das Hinterlassen der Spuren von mir, / von meinen Gedanken, meinen Entscheidungen, / das Notieren der eigenen Schritte und eigenen Gesten, / der eigenen Sehnsüchte, mit denen wir die Zeit und den Raum um uns herum anfüllen, / um jenen sonderbaren, mit zuviel Nerven ausgestatteten Organismus, / der vergeblich versucht, sich mit dem zu vereinen, / was um ihn herum existiert. / Keine Spur vom Dargestellten! / Keine Spur von Kopie! / Wenn es stimmt, daß der Künstler in seinem Schaffen verbrennt, / ist sein Werk die Asche.
in: AUS DER SAMMLUNG. Seit 25 Jahren, Kunsthalle Nürnberg 1992
Emballages, objets, personnages nr. III, 1968
Tempera und roter Schirm, Collage auf Leinwand, 130 x 220 cm, Inv.-Nr 12/68
erworben 1968 für die Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst der
Stadt Nürnberg, Dauerleihgabe im Neuen Museum Nürnberg
Tadeusz Kantor gehörte zu jenen Künstlern Polens, denen es gleich nach dem Krieg gelang - nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch auf internationaler Ebene - eine Position einzunehmen, die es der sozialistischen Kulturpolitik kaum ermöglichte doktrinäre Kunstvorstellungen gegen sie durchzusetzen. Er machte seine Landsleute mit den Ideen der Surrealisten bekannt, die Lautreamonts Sentenz "schön, wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch" zu ihrem Leitmotiv gewählt hatten. Er griff Theorien und Methoden des Informel auf - wobei es ihm aber weniger um den spontanen Malakt als Arbeitsmethode zur Herstellung von Bildern ging, als vielmehr um die Aktion selbst. Und er verband die damals aktuellen Bestrebungen der Malerei mit Anregungen des absurden Theaters, um daraus ganz eigenständige Happenings und Aktionen zu entwickeln, welche die Kluft zwischen dem Kunstwerk und dem Publikum zu überwinden suchten. Heute gilt er in erster Linie als Reformator des Avantgarde-Theaters. Mit dem von ihm 1956 gegründeten Theater Cricot 2 bereiste er jahrzehntelang Europa.
CREDO / Man sieht sich ein Teaterstück / nicht wie ein Bild an, / der ästhetischen Empfindungen wegen, sondern man erlebt sie wirklich. / Ich habe keine künstlichen Regeln, / ich fühle mich mit keinen vergangenen Epochen verbunden, / sie sind mir fremd, und sie interessieren mich nicht. / Ich empfinde nur eine große Verpflichtung der Zeit gegenüber, / in der ich lebe und den Menschen gegenüber, die rund um mich leben. / Ich glaube, daß die Ganzheit neben der Sensibilität / auch die Barbarei in sich fassen kann, / neben dem ungenierten Lachen auch die Tragik, / daß die Ganzheit durch die Kontraste entsteht, und je größer die Kontraste sind, / desto spürbarer, realer, / lebendiger wird die Ganzheit.
Ein wichtiges Glied im größeren, zusammengehörenden Organismus von Kantors Kunst ist seine Malerei. So wie für ihn die Bühne einen Raum der Phantasie darstellte, so reizte ihn auch die Fläche dazu, Aspekte des täglichen Lebens miteinander zu konfrontieren. Ihm ging es um die Verbindung von Kunst und Leben. Malerei ist die Manifestation des Lebens.
Die Frage "Warum male ich?" klingt wie die Frage: "Warum lebe ich?" / Das Sein in der Zeit, das Vergehen in der Zeit, / das Hinterlassen der Spuren von mir, / von meinen Gedanken, meinen Entscheidungen, / das Notieren der eigenen Schritte und eigenen Gesten, / der eigenen Sehnsüchte, mit denen wir die Zeit und den Raum um uns herum anfüllen, / um jenen sonderbaren, mit zuviel Nerven ausgestatteten Organismus, / der vergeblich versucht, sich mit dem zu vereinen, / was um ihn herum existiert. / Keine Spur vom Dargestellten! / Keine Spur von Kopie! / Wenn es stimmt, daß der Künstler in seinem Schaffen verbrennt, / ist sein Werk die Asche.
Emballages, objets, personnages verbindet im Titel drei Begriffe: Verpackung, Gegenstand und Person. Der Emballage-Begriff ist sicher in erster Linie als Metapher zu verstehen (Erläuterung siehe unten, im Zitat DER REGENSCHIRM... ), aber andererseits klebte Kantor auch Verpackungsmaterial, ergänzt durch gedruckte Schrift, an den rechten Bildrand und an das obere Ende der Nahtstelle beider Diptychontafeln. Ein Regenschirm ist als dominierendes Objekt ins Bild montiert und rot übermalt. Eine gemalte, nackte Frau liegt am unteren Bildrand.
Über ihrem Kopf ist deutlich das französische Wort NUE zu lesen, das sowohl "Wolke", als auch "weiblicher Akt" bedeutet. Als Eigenschaftswort meint es nicht nur "nackt", im Sinne von "unbekleidet", sondern kann auch "unverhüllt", "ungeschützt", "freiliegend", "leer" umfassen. Somit stellt es einen Gegenpol zu Kantors Emballage-Begriff dar:
EMBALLAGE / wenn / man etwas sagen will, / etwas sehr wichtiges / und Wesentliches / und Persönliches. / EMBALLAGE / Wenn / man etwas schützen will, / sichern, / (damit es überdauert) / und vor dem Zahn der Zeit / bewahren will, / EMBALLAGE... / Wenn / man etwas verstecken will, / sehr tief, / EMBALLAGE... / etwas von der Welt isolieren, / vor Einmischung, / Ignoranz / und Gemeinheit schützen will. / EMBALLAGE... / EMBALLAGE... / EMBALLAGE.
In Emballages, objets, personnages bildet die nackte Frau einen formalen und inhaltlichen Gegensatz zum Objekt, dessen Bedeutung Kantor sehr ausführlich erläuterte:
DER REGENSCHIRM. Allein schon die Wahl jenes Gegenstandes hatte damals für mich die Bedeutung einer unerwarteten Entdeckung: und die Entscheidung, diesen so utilitären Gegenstand zu verwenden und dadurch die geheiligten, künstlerischen Maler-Tätigkeiten zu ersetzen, war für mich damals - durch dessen Schändung - ein Freiheits-Gewinn. Zweifelsohne bedeutete dies mehr als nur Zeitungen, Schnur oder Streichholzschachtel auf die Bildfläche zu kleben. Ich war nicht auf der Suche nach einem neuen Gegenstand für eine Collage. Es ging mir vielmehr darum, eine attraktive 'Emballage' zu finden. Der Regenschirm ist eine eigenartige metaphorische Emballage, er stellt eine Art 'Verpackung' für viele menschliche Angelegenheiten dar, er birgt in sich Poesie, Unbrauchbarkeit, Ratlosigkeit und Schutzlosigkeit, Uneigennützigkeit und Hoffnung und Lächerlichkeit. Sein mannigfaltiger 'Inhalt' war immer mit dem pikturalen Kommentar 'Informel' versehen, später mit dem figurativen Kommentar.
Emballages, objets, personnages entstand innerhalb einer Dreiergruppe ähnlicher Werke in Nürnberg Während seines Aufenthalts in der Stadt entwickelte Kantor zahlreiche Aktivitäten
1968 ... Nürnberg. lm Rahmen des Filmes Kantor ist da, der vom Institut für moderne Kunst Nürnberg und vom Saarländischen Rundfunk gedreht wird, veranstalte ich in einem Cafe ein Happening, eine Art De-Emballage: / Einem an einem Tisch / sitzenden Gast, / der mit gesundem Appetit / und mit einer großen Serviette unter dem Kinn ißt, / schneide ich, / mittels mehrerer Messer, Scheren, Gabeln / Teil für Teil, pedantisch, später immer furioser, / die Jacke, das Hemd, die Hose / in Streifen - / bis er splitternackt ist.
1968 ... Nürnberg. Die Kunsthalle. Im Rahmen des Filmes Kantor ist da veranstalte ich das Happening Die Anatomie-Stunde nach Rembrandt. / Die Studenten der Kunstakademie nehmen daran teil. / Anhand der Reproduktion stelle ich die bekannte Gruppe nach. / Ich prüfe nach. Korrigiere. / Mittels chirurgischer Instrumente / schneide ich aufeinander folgende, / immer tiefere Kleidungsschichten des liegenden Menschen auf / Ich schneide die Nähte, / die Stoffverbindungsstellen, / die ganze komplizierte Anatomie des Zuschnittes durch. / Ich dringe bis zu den Taschen vor, zu jenen Organen des menschlichen Aufbewahrungsinstinktes, / zeige die Inhalte der Taschen, / beschreibe genau jedes einzelne Stück.
EMBALLAGE HUMAIN / Emballage mit lebendigem, menschlichem 'Inneren'. / Die Tätigkeit des Einwickelns wiederhole ich mehrmals. / Immer nimmt Maria Stangret daran teil. Dies ist bereits ein pures Ritual, / jeglicher Symbolik beraubt, ein reiner, ostentativer Akt: im Happening Cricotage im Jahre 1965 in Warschau, / 1966 im Happening Die Trennungslinie in Krakau, / 1967 im Happening Große Emballage in Basel, / 1968 im Film Kantor ist da in Nürnberg.
Bei dieser letztgenannten Aktion bandagierte Kantor seine auf einem Sockel stehende Lebensgefährtin solange mit breiten Binden ein, bis sie wie eine mumifizierte Statue wirkte. Anschließend befreite er sie wieder aus dieser engen Umwicklung. Es ist kaum zu akzeptieren, daß es sich dabei um einen jeglicher Symbolik beraubten Akt handeln soll, denn den Ort der Handlung wählte der Künstler sicher ganz bewusst: der riesige Innenhof der Kongresshalle des Reichsparteitagsgeländes!
EMBALLAGE / Eine gewaltig große, schwarze 'Emballage' ist die endgültige und radikale Art, / alles zu liquidieren.
(Zitate: Tadeusz Kantor. Ein Reisender. Seine Texte und Manuskripte, Institut für moderne Kunst, Nürnberg, 1988)
Fotos: Willi Nemski
EMBALLAGE / wenn / man etwas sagen will, / etwas sehr wichtiges / und Wesentliches / und Persönliches. / EMBALLAGE / Wenn / man etwas schützen will, / sichern, / (damit es überdauert) / und vor dem Zahn der Zeit / bewahren will, / EMBALLAGE... / Wenn / man etwas verstecken will, / sehr tief, / EMBALLAGE... / etwas von der Welt isolieren, / vor Einmischung, / Ignoranz / und Gemeinheit schützen will. / EMBALLAGE... / EMBALLAGE... / EMBALLAGE.
In Emballages, objets, personnages bildet die nackte Frau einen formalen und inhaltlichen Gegensatz zum Objekt, dessen Bedeutung Kantor sehr ausführlich erläuterte:
DER REGENSCHIRM. Allein schon die Wahl jenes Gegenstandes hatte damals für mich die Bedeutung einer unerwarteten Entdeckung: und die Entscheidung, diesen so utilitären Gegenstand zu verwenden und dadurch die geheiligten, künstlerischen Maler-Tätigkeiten zu ersetzen, war für mich damals - durch dessen Schändung - ein Freiheits-Gewinn. Zweifelsohne bedeutete dies mehr als nur Zeitungen, Schnur oder Streichholzschachtel auf die Bildfläche zu kleben. Ich war nicht auf der Suche nach einem neuen Gegenstand für eine Collage. Es ging mir vielmehr darum, eine attraktive 'Emballage' zu finden. Der Regenschirm ist eine eigenartige metaphorische Emballage, er stellt eine Art 'Verpackung' für viele menschliche Angelegenheiten dar, er birgt in sich Poesie, Unbrauchbarkeit, Ratlosigkeit und Schutzlosigkeit, Uneigennützigkeit und Hoffnung und Lächerlichkeit. Sein mannigfaltiger 'Inhalt' war immer mit dem pikturalen Kommentar 'Informel' versehen, später mit dem figurativen Kommentar.
Emballages, objets, personnages entstand innerhalb einer Dreiergruppe ähnlicher Werke in Nürnberg Während seines Aufenthalts in der Stadt entwickelte Kantor zahlreiche Aktivitäten
1968 ... Nürnberg. lm Rahmen des Filmes Kantor ist da, der vom Institut für moderne Kunst Nürnberg und vom Saarländischen Rundfunk gedreht wird, veranstalte ich in einem Cafe ein Happening, eine Art De-Emballage: / Einem an einem Tisch / sitzenden Gast, / der mit gesundem Appetit / und mit einer großen Serviette unter dem Kinn ißt, / schneide ich, / mittels mehrerer Messer, Scheren, Gabeln / Teil für Teil, pedantisch, später immer furioser, / die Jacke, das Hemd, die Hose / in Streifen - / bis er splitternackt ist.
1968 ... Nürnberg. Die Kunsthalle. Im Rahmen des Filmes Kantor ist da veranstalte ich das Happening Die Anatomie-Stunde nach Rembrandt. / Die Studenten der Kunstakademie nehmen daran teil. / Anhand der Reproduktion stelle ich die bekannte Gruppe nach. / Ich prüfe nach. Korrigiere. / Mittels chirurgischer Instrumente / schneide ich aufeinander folgende, / immer tiefere Kleidungsschichten des liegenden Menschen auf / Ich schneide die Nähte, / die Stoffverbindungsstellen, / die ganze komplizierte Anatomie des Zuschnittes durch. / Ich dringe bis zu den Taschen vor, zu jenen Organen des menschlichen Aufbewahrungsinstinktes, / zeige die Inhalte der Taschen, / beschreibe genau jedes einzelne Stück.
EMBALLAGE HUMAIN / Emballage mit lebendigem, menschlichem 'Inneren'. / Die Tätigkeit des Einwickelns wiederhole ich mehrmals. / Immer nimmt Maria Stangret daran teil. Dies ist bereits ein pures Ritual, / jeglicher Symbolik beraubt, ein reiner, ostentativer Akt: im Happening Cricotage im Jahre 1965 in Warschau, / 1966 im Happening Die Trennungslinie in Krakau, / 1967 im Happening Große Emballage in Basel, / 1968 im Film Kantor ist da in Nürnberg.
Bei dieser letztgenannten Aktion bandagierte Kantor seine auf einem Sockel stehende Lebensgefährtin solange mit breiten Binden ein, bis sie wie eine mumifizierte Statue wirkte. Anschließend befreite er sie wieder aus dieser engen Umwicklung. Es ist kaum zu akzeptieren, daß es sich dabei um einen jeglicher Symbolik beraubten Akt handeln soll, denn den Ort der Handlung wählte der Künstler sicher ganz bewusst: der riesige Innenhof der Kongresshalle des Reichsparteitagsgeländes!
EMBALLAGE / Eine gewaltig große, schwarze 'Emballage' ist die endgültige und radikale Art, / alles zu liquidieren.
(Zitate: Tadeusz Kantor. Ein Reisender. Seine Texte und Manuskripte, Institut für moderne Kunst, Nürnberg, 1988)
Fotos: Willi Nemski